Sibylle Bergemann, Frieda, Allerleirauh, 1988

Mitte der 1960er Jahre begann Sibylle Bergemann ihre fotografische Karriere indem sie Fenster dokumentierte, ein Sujet das sie immer wieder aufgreifen sollte und indem sie so viel wie möglich über das Medium von Arno Fischer und seinem damaligen Umfeld, Mitglieder*innen der Gruppe DIREKT wie Elisabeth Meinke, Roger Melis, Brigitte Voigt und Michael Weidt, lernte. Am Ende dieser Dekade nahm Bergemann bereits regelmäßig Aufträge von ostdeutschen illustrierten Zeitschriften an, darunter Sibylle: Die Zeitschrift für Mode und Kultur.

Sibylle Bergemann
Frieda, Allerleirauh
Vintage Silbergelatineabzug, 39,2 x 26 cm, 1988 © Nachlass Sibylle Bergemann; Ostkreuz – Courtesy Loock Galerie, Berlin

Bergemann arbeitete über drei Jahrzehnte für das beliebte Mode- und Kulturmagazin, fotografierte junge Models auf der Straße und trug zur Diversifizierung der ostdeutschen visuellen Kultur bei. Auch fotografierte sie ihre Tochter Frieda von Wild in avantgardistischen Entwürfen von Katharina Reinwald und Angelika Kroker, die der Mode-, Theater- und Performancegruppe Allerleirauh angehörten. Ein solches Foto, Frieda, Allerleirauh, ist Teil der Sammlung der Stiftung Reinbeckhallen Sammlung für Gegenwartskunst. 

Diese surreale Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Jahr 1988 zeigt von Wild, wie sie mit dem Rücken zur Kamera auf einem Balkon steht. Umgeben von Sträuchern, einer Wäscheleine und einem steinernen Engel, dreht sie den Kopf zur Seite und drückt ihre behandschuhten Hände gegen den abblätternden Stuck des Balkons. Diese sorgfältige Positionierung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Lederjacke von Allerleirauh, insbesondere auf die breiten Schultern und den schuppenbedeckten Rücken, der Faltenwurf wirkt ähnlich zu dem Gewand des Engels. Diese subtile Nachahmung deutet darauf hin, dass Allerleirauhs Entwürfe – notorisch aus Duschvorhängen, Erdbeerbehältern und medizinischem Zubehör hergestellt und in Wohnzimmern, verlassenen Kirchen und Schwimmbädern modelliert – nicht von dieser Welt waren.

Die Reinbeckhallen eröffneten 2017 mit der Ausstellung Sibylle Bergemann – Eine retrospektive Werkschau ihre Pforten. Die Retrospektive, die sowohl einen Film als auch über 100 Farb- und Schwarzweißfotografien umfasste, wurde durch Ausstellungen in der LOOCK Galerie und bei Kicken Berlin ergänzt und von dem Katalog Sibylle Bergemann (Kerber Verlag) begleitet.

Dr. Candice M. Hamelin


Sibylle Bergemann (*1941 in Berlin; †2010 in Gransee) ist eine der bekanntesten ostdeutschen Fotografinnen. Sowohl vor als auch nach dem Fall der Berliner Mauer reiste sie um die Welt, um ihre Fotografien auszustellen und Auftragsarbeiten für stern, GEO und The New York Times Magazine auszuführen. Ihre Fotografien befinden sich in Sammlungen der Berlinischen Galerie, Berlin; des Deutschen Bundestags, Berlin; des Deutschen Historischen Museums, Berlin; der Staatlichen Galerie Moritzburg, Halle; der Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig; der Sammlung F. C. Gundlach, Hamburg; des Sprengel-Museums, Hannover; des Centre Régional de la Photographie, Nord-Pas-de-Calais; des Musée de l’Elysée, Lausanne; der Tate Modern, London; des Museum of Modern Art, New York und des Harvard Art Museums, Cambridge, Massachusetts.